Alarmruf: Die medizinische Versorgung von Kindern

Liebes Lage-Team,
ich würde gern ein Thema vorschlagen, dass in meinen Augen zwar immer wieder angerissen wird, aber irgendwie nicht komplett in seiner Tragweite erfasst wird: Die medizinische Versorgung von Kindern im ambulanten aber auch stationären Bereich.
Ich bin angestellte Kinderärztin in einem Flächenbundesland und immer wieder gerate ich an den Punkt an dem ich deutlich merke, dass wir unsere Kinder deutlisch schlechter behandeln als uns Erwachsene. Wir sind an einem Punkt an dem wir Kinderärzte die Arbeit so nicht mehr aufrecht erhalten können.
Im Dezember 22 war es für mich bisher am deutlichsten zu spüren. Wir hatten einfach keine Kapazitäten mehr alle Kinder wirklich nach Leitlinie zu behandeln. Eine heftige Infektwelle (erst RSV und dann Influenza) hat dazu geführt, dass das System in meinen Augen kollabiert ist. Wir hatten bis zu 280 Patienten am Tag!!! (normal sind bei uns ca. 90, an vollen Tagen 130). Wir reden hier von Kindermedizin, dass heißt Anamnese, Ausziehen des Kindes, Untersuchung, Therapiebesprechung. Das waren ca. 2,5 min pro Patient im Schnitt, Vorsorgen und Impfungen mit eingerechnet. Sie können sich vielleicht vorstellen wie gut man da auf Kinder eingehen kann. Es gab und gibt gleichzeitig Lieferprobleme bei Schmerzmitteln bzw. Fiebersaft, Asthmamedikamenten, Antibiosen aller Art und einigem mehr. Das heißt, ich habe morgens den Apotheker meines Vertrauens angerufen und der sagte mir was er im Bestand hat. Alle anderen Apotheken der Umgebung hatten und haben nichts mehr. Und die Antwort ist in etwa: 3 x Antibiose X und 5 x Antibiose Y, 10 x Ibuprofensaft, 3 x Asthmaspray. Bestellt sind von allem 70 und mehr. Ich hatte die Aufgabe diese Medikamente an „die richtigen Patienten“ zu geben. Wir konnten zwar alle nach Leitlinie behandeln aber nicht immer mit dem Mittel der Wahl. Und wir mussten knallhart priorisieren. PRIORISIEREN! Das was in den Hochzeiten der Pandemie bei Erwachsenen ein absolutes NoGo war. Bei Kindern tun wir es schon lange insbesondere im Winter in der Infektzeit und das ist für die Familien wirklich schlimm.
Die Kliniken haben nur etwa jeden dritten von mir eingewiesenen Patienten überhaupt aufgenommen, weil auch dort knallhart priorisiert werden musste. Ich habe Sätze gehört wie „Wenn das Kind nicht halbtot ist, dann nehmen wir es eh nicht auf.“ In einem Flächenbundesland wie hier mussten manche Eltern über 100 km für eine Versorgung in der Klinik fahren. Und wenn es um Intensivbetten für Kinder geht ist es noch schwieriger. Da kann man diverse Berichte von dem Kinderarzt Dr. Michael Sasse sehen. Es sterben Kinder in Deutschland, weil wir keine Kapazitäten mehr in der Versorgung haben, ich habe es selbst gesehen. Und das darf einfach nicht sein!

Gleichzeitig ist es so, dass unsere Praxis die letzten Jahre viele tausend Euro „Strafe“ gezahlt hat, weil wir zu viele Patienten behandelt haben. (Da ich die genauen Zahlen als Angestellte nicht kenne, müsste diese Handhabung der KV nachrecherchiert werden). Wenn eine Praxis mehr Patienten behandelt hat als im Vorjahr, dann gibt es dafür „Rückzahlungen“. Nur haben einige Praxen der Umgebung keinen Nachfolger und schließen. Gleichzeitig nehmen aus o.g. Grund viele Praxen keine neuen Patienten mehr auf. Unsere jugendlichen Patienten würden wir gern an Allgemeinmediziner abgeben, doch gibt es keine im Umkreis mit Kapazitäten.
Da wundert es mich nicht, dass junge KinderärztInnen keine Lust verspüren eine Praxisnachfolge anzutreten. Zum Thema Nachwuchsmangel kann man den Artikel von Frau Dr. Ramacher vom 23.12.22 im Lokalblatt von Uelzen lesen. Der anstehende demographische Wandel in den nächsten Jahren in dieser Branche wird die Situation weiter eskalieren lassen.

Ein weiterer Punkt ist, dass in unserem sehr großen Bundesland kaum spezialisierte Kinderärzte oder überhaupt Fachärzte vorhanden sind. Manche Patienten kann ich nur in 350 km Entfernung zeitig bei einem Spezialisten unterbringen. Wartezeiten in Einrichtungen wie einem SPZ bei bis zu einem Jahr.
Fachabteilungen haben gleichzeitig schließen müssen. Extrem Frühgeborene werden nur noch in 2 Städten in unserem Bundesland versorgt, weil eine Frühchenstation hier geschlossen wurde.
Viele unserer Patienten haben gar kein Auto und wohnen auf dem Dorf, Stichwort Nahverkehr auf dem Land. Die landen einfach nicht beim Spezialisten oder bei einem Therapeuten mit entsprechender Spezialisierung.
Es bleibt so viel Potential auf der Strecke. Wenn wir unsere kranken Kinder nicht gut versorgen, dann sind es später chronisch kranke Erwachsene, die nicht in die Rentenkasse einzahlen. Das ist doch auch unwirtschaftlich.
Ich kann hier nur aus dem Alltag berichten aber ich habe die Hoffnung, wenn Ihr wirklich eingehend über das Thema auf allen Ebenen sprecht, dass es vielleicht in der Politik und bei den Menschen wirklich ankommt.
Viele Grüße, anonym

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