Abzug der NATO aus Afghanistan

Nachdem Donald Trump einseitig mit den Taliban und der afghanischen Regierung in Doha einen Abzug der NATO-Truppen bis zum 01. Mai 2021 verabredetet hat, hat sich nun die neue US-Regierung zu einer Position durchgerungen. Bis zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September soll der US-Truppenabzug aus Afghanistan abgeschlossen sein. Damit verbunden ist auch der Abzug der restlichen NATO-Truppen (Beistandspflicht aus Art. 5 NATO-Vertrag fällt weg) - eben auch der Bundeswehr.

Die Bilanz dieses Auslandseinsatzes ist verheerend: 59 deutsche Soldat*innen haben im Einsatz ihr Leben gelassen. Das eigentliche Ziel (Ausbildung, Beratung und Unterstützung) kann zwar mit dem Aufbau afghanischer Streitkräfte und dem sozialen Engagement als erfüllt angesehen werden, aber zu welchem Preis? Die Lage in Afghanistan ist zunehmend wieder instabiler, es besteht die Angst vor einer neuen restriktiven Taliban-Herrschaft. Sollten sich die Extremisten dann versuchen, die Entscheidung über die Herrschaft in Afghanistan auf dem Schlachtfeld suchen, wären keine ausländischen Truppen mehr da, sich ihnen entgegenzustellen.

Es war von Anfang an, ein Fehler der NATO, sich in Afghanistan zu engagieren. Dieses Land ist und war schon immer ein Pulverfass, das die USA bzw. die NATO zum Expoldieren gebracht hat. Nun muss sich die internationale Gemeinschaft aber auch Gedanken machen, wie dort nun dauerhaft Frieden - bzw. zumindest Schutz der Zivilbevölkerung - erreicht werden kann.

National muss der gesamte NATO-Einsatz bewertet werden: vom Bundestag, vom BmVg (Bundesministerium der Verteidigung) und des Generalinspektors. Welche Lehren kann aus diesem Kriegseinsatz bzw. Kampfeinsatz gezogen werden? Was sind die Konsequenzen? Wie können wir die Bundeswehr effektiver ausstatten? Solche Fragen müssen gestellt werden.

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Es stellt sich für mich die Frage, ob der militärische Einsatz in Afghanistan grundsätzlich vom Völkerrecht gedeckt war bzw. ist. Mit welchem Recht darf eine Weltmacht auf der Suche nach einem arabischen Terroristen bzw. einer internationalen Terrororganisation einen asiatischen Staat militärisch überfallen bzw. besetzten, zumal die Afghanische Regierung keinen direkten Zugriff auf Osama bin Laden hatte und ihm auch offiziell keine Zuflucht gewährt hat? Würde die westliche Welt vergleichbares Handeln der Russen oder Chinesen genauso locker hinnehmen? Mir ist das Geschrei der Öffentlichkeit beim Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan noch gut in Erinnerung.

Auch der „Aufbau demokratischer Strukturen“ ist m.E. keine völkerrechtliche Legitimation für einen militärischen Einsatz, zumal die Geschichte wiederholt bewiesen hat, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht von außen erzwingen lassen. Der Vergleich mit Deutschland in der LdN ist da m.E. nicht zielführend, denn mit dem Sturz des Kaisers 1918 und der Weimarer Republik danach hatte hier schon die gesellschaftliche Entwicklung zu demokratischen Strukturen von innenheraus eingesetzt und die Besetzung von Deutschland 1945 war die direkte Folge des 2. Weltkrieges, der von Deutschland ausging.

Bei den Schlussfolgerungen aus dem Afghanistankrieg geht es deshalb aus meiner Sicht nicht primär darum, wie wir die Bundeswehr besser ausstatten können, sondern wie wir sie vor solchen katastrophalen Einsätzen bewahren können. Diese Diskussion kann man aber nur auf der Basis der ehrlichen Beantwortung der Frage nach der Legitimation des Einsatzes führen.

Zur Frage nach der völkerrechtlichen Legitimation sind die 20 Jahre in zwei verschiedenen Phasen zu unterteilen: die Anfangsphase (so ca. das erste Jahr) und dann die zweite Phase.

In der Anfangsphase ist die völkerrechtliche Legitimation nahezu unumstritten: Die USA und durch Art. 5 NATO-Vertrag auch die NATO durfte sich im Rahmen des Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta gegen das de-facto-Regime der Taliban in Afghanistan vorgehen, da sie die Al-Qaida geduldet hat. Die damalige „demokratische“ Regierung wurde zwar weiterhin als legitime Regierung anerkannt, ist aber in der Staatenverantwortlichkeit nach ILC-Entwurf irrelevant. Diese Staatenverantwortlichkeit sowie die Zurechnung nach Art. 51 UN-Charta des Angreifers geht von der tatsächlichen Herrschaft in einem Land aus - und diese hatte de facto die Taliban inne. Daneben trat auch zusätzlich die UN-Resolution 1368, die den USA ein Selbstverteidigungsrecht gegen die Angriffe auf das World Trade Center bzw. ein generelles Selbstverteidigungsrecht auf Terroranschläge dieses Ausmaßes der Staatengemeinschaft zubilligte. Aus diesem Grund durften die USA und die NATO die Taliban in Afghanistan bekämpfen. Dies machte so ca. das erste Jahr aus bis die Taliban mehr oder weniger ihre Herrschaftsgewalt verloren hatte.

Danach wird es völkerrechtlich interessant: aus meiner Sicht nicht ganz zu beantworten ist, ob die dann wieder eingesetzte afghanische Zivilregierung die NATO-Truppen gebeten hatte, in ihrem Herrschaftsbereich zu bleiben. Wenn dies geschehen ist, dann ist die völkerrechtliche Legitimation für das Verbleiben in Afghanistan gegeben. Dies kann ich aber nicht abschließend beurteilen. Auch wandelte sich der Zweck des Einsatzes vom Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta auf den Aufbau der Zivilgesellschaft sowie Ausbildung der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte auf Bitten der Zivilregierung. Dies ist in meinen Augen die völkerrechtliche Legitimation des Einsatzes in Afghanistan - die Einladung/Bitte der Zivilregierung. Für die Kampfeinsätze mit den Taliban sind dann wieder durch das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 UN-Charta gedeckt. Aus diesem Grund sind bis heute Waffensysteme in Afghanistan stationiert.

Die Situation rund um Afghanistan und dessen Bundeswehreinsatz ist nicht immer stringent nach Völkerrechtlehrbuch zu bewerten. Grds. sind dies aber die Leitlinien, die universell gelten und auch hier angewendet werden können.

Das Völkerrecht macht keinen Unterschied zwischen den Nationen, die eine Handlung vollziehen. Grds. war allerdings der Unterschied zwischen dem Einmarsch der Sowjetunion und dem Einmarsch der USA, dass die Sowjetunion nicht angegriffen wurde und ihr nicht das Selbstverteidigungsrecht zustand.

Die Situation in Afghanistan hat allerdings aus militärisch-strategischer Sicht eine Erkenntnis gebracht (und damit mache ich mich in der „linken“ politischen Ecke unbeliebt): der Einsatz von bewaffneten Drohnen wie eine Heron TP ergibt in manchem Situationen durchaus Sinn. Wenn diese in Rahmen einer Patrouille standardmäßig mitfliegt, kann sie bei Hinterhalten eingreifen und so den Schutz der Soldatinnen verbessern. Dies haben regelmäßig die Angriffe der Taliban auf deutsche Soldatinnen gezeigt, die dann ca. 1h Stunde auf Luftunterstützung warten mussten. Wenn die Luftunterstützung schon vor Ort ist, kann der Schutz enorm verbessert werden. Zum separaten Thema wie das Abfeuern der Bewaffnung intern geregelt sein soll, steht dabei natürlich auf einem anderen Blatt Papiere (bspw. voneinander unabhängige Genehmigungen des jeweiligen obersten Vorgesetzten vor Ort und einem extra „neutralen“ Vorgesetzten im Verteidigungsministerium, um so die Hemmschwelle eines Abfeuerns zu erhöhen).

Auch eine generelle Aufarbeitung des gesamten Einsatzes muss erfolgen.

Ich finde ebenfalls, dass der Abzug aus Afghanistan unbedingt in der kommenden Folge thematisiert werden sollte!

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Bundesregierung bislang eine ressortübergreifende Evaluierung blockiert hat; ganz im Gegensatz zu anderen Staaten wie etwa Norwegen oder UK:

@mssfoa Danke für die sachliche Darstellung der völkerrechtlichen Legitimation, die einige der häufigen Fehleinschätzungen richtig stellt. Politisch links der Mitte wird oft das Völkerrecht angeführt, um die angebliche Illegitimität von Militäreinsätzen zu begründen. Die wenigsten wissen aber, was das Völkerrecht überhaupt erlaubt - und in vielen Fällen deutlich mehr, als man denken würde.

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Disregard: Ist ja sogar in der aktuellen Folge vom Freitag dabei. Erst hören, dann posten… :slight_smile:

Für mich bleibt die Frage nach der grundsätzlichen Rechtfertigung des Krieges in Afghanistan über beide Phasen (Angriff und Aufbauphase).

Weder der Afghanische Staat noch die Taliban haben die USA angegriffen oder die Terroranschläge auf das World Trade Center verübt. Die Rechtfertigung des Krieges mit der „Selbstverteidigung“ wegen der „Duldung“ von El-Qaida im Land würde nach sich ziehen, dass die USA auch Pakistan hätte besetzen müssen, wo sich ja nachfolgend Osama bin Laden und seine El Quaida aufgehalten haben. Der Angriff auf das gesellschaftlich zerrissene und geschwächte Afghanistan war wohl hauptsächlich der Versuch von Georg W. Bush, innen- und außenpolitisch eine starke und erfolgversprechende Antwort auf die Terroranschläge zu geben.

Auch die nachfolgende Phase des „Aufbaus der Zivilgesellschaft“ und der Ausbildung der Streitkräfte ist problematisch, da sie ja (wenn überhaupt) auf Anforderung einer fragwürdig legitimierten „demokratischen“ Regierung erfolgte. Eine gesellschaftliche Entwicklung (Aufbau einer demokratischer Gesellschaft) kann man nicht „exportieren“, sie muss in der Gesellschaft wachsen. Nach Abzug der alliierten Truppen wird sich eine Gesellschaftsordnung entsprechend dem dortigen Entwicklungsstand einstellen.

Die Frage bzw. ehrliche Beantwortung der Frage nach der grundsätzlichen Legitimation des Afghanistan Krieges steht für mich an erster Stelle, wenn wir zukünftig solche Kriege mit verheerenden Verlusten insbesondere auf der Seite der Zivilbevölkerung vermeiden wollen. Bessere Waffensysteme auf der einen Seite ziehen nur die Beschaffung vergleichbarer Systeme auf der anderen Seite nach sich und lösen das Problem nicht.

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Danke für die Ausführliche Darstellung. Könnten Sie die Unumstrittenheit bezüglich Phase 1 etwas näher beschreiben? Oder einen Link posten? Ähnlich wie Guntram fällt es mir schwer den Bogen Al-Qaida->Taliban zu schlagen. Oder genauer: Den Bogen nur dorthin.
Al-Qaida war schon damals in mehreren Regionen aktiv, überwiegend, aber nicht nur Afghanistan. Von den Attentätern war scheinbar nicht einer Afghane. Das muss natürlich nichts bedeuten, aber es hätte damals vielleicht Indiz für potentiell andere beteiligte Nationen sein können, zB Saudi-Arabien.
Und eine Rückfrage noch: Gilt das Recht zur Selbstverteidigung auch fort, wenn die beschuldigte Gruppe (halbherzige) Kooperation/Auslieferung anbietet?

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Liebe Mitforistens,
ich habe die neue Lage gehört und bin etwas gestolpert, als es sinngemäß hieß, der ‚Krieg in Afghanistan hat mit 9/11 angefangen‘. Würdet ihr das auch so formulieren? Es gab dann noch eine kurze Stellungnahme zum sowjetischen Einfluss, aber das hat meiner Meinung nach nicht die Bandbreite getroffen. Es war ja auch dort zumindest teilweise ein Interessenkonflikt wie in anderen Stellvertreterkriege/-konflikten.

Ich hätte eine Formulierung im Sinne von ‚9/11 war das Ergebniss der Destabilisierung durch Russland und die USA und der Auslöser für die offene militärische Intervention der USA und seiner Verbündeten (mit D?)‘ besser gefunden. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich nicht im vornherein den Ablauf der Ereignisse durcheinander bringe. Wie war euer Reaktion auf diesen Teil der Lage?

Danke und viele Grüße
Josmer

Hallo Josmer!

Ich muss gestehen, dass ich die Kritik nicht nachvollziehen kann.
Also ich halte das für eine korrekte Darstellung der Ereignisse. Der Krieg gegen die Taliban war natürlich eine direkte Folge der 9/11 - Anschläge.

Es ist insofern nicht korrekt, als Ende der 1980er die Sowjetunion nach fast einem Jahrzehnt des Kriegs abgezogen ist. Und der Einmarsch erfolgte über 10 Jahre später, und erst recht nicht in einem Stellvertreterkrieg.
Dass auch davor schon Kriegszustände und Bürgerkrieg herrschten, ist in der Lage korrekt beschrieben. Also ich fand die Darstellung einwandfrei.

herzliche Grüße,

Markus

Hi Markus,
danke für das einordnen. Meine Äußerung beruht auf meinem Verständnis, dass das Land zuvor schon im Interessenkonflikt (offen bis zum Abzug der Sowjetunion) destabilisiert wurde und als deren Folge dann die Anschläge in New York passierten, woraufhin dann der Krieg begann. Aber vollkommen richtig, wie von dir beschrieben, trotzdem zu sagen, dass der Krieg mit den Anschlägen angefangen hat bzw. die Legitimation dafür gegeben war und dass dies der Grund für die Eskalation zu einem Krieg war. Was ich nicht richtig formuliert und in dem Moment auch unerheblich war, ist, dass die Anschläge natürlich auch einen Grund hatten und dass das in dem Moment für mich nicht ersichtlich war.

Ebenso beste Grüße
Josmer

Wie es scheint, habe ich mich mit meinen Ausführungen zum Völkerrecht zu kurz und zu oberflächlich verhalten. Das sollte nicht so sein. Ich werde auch hierbei wieder zwischen der Anfangsphase sowie der „Einladungsphase“ unterscheiden. Ich entschuldige mich schon mal im Voraus für die Länge.

Anfangsphase (2001- ca. 2002/2003)
Zu Beginn der Bewertung der anfänglichen militärischen Aktionen der USA und Großbritanniens ist das grds. Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen (Art. 2 IV UN-Charta) in Erinnerung zu rufen. Danach haben alle UN-Mitglieder die „Androhung oder Anwendung“ von Gewalt zu unterlassen. Als Ausnahmen von diesem umfassenden Gewaltverbot kennt die UN-Charta nur das Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta) und Maßnahmen der kollektiven Sicherheit nach Kapitell VII der Charta, die einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Sicherheitsrat bedürfen. Dieses Gewaltverbot gilt nicht nur zwischen den Staaten, sondern in den internationalen Beziehungen der Staaten. Es gilt somit für alle militärischen Aktionen, die sich nicht auf das eigene Territorium begrenzen oder mit der Zustimmung des Staates, in dem die Aktion stattfindet, durchgeführt werden.

Vor diesem Hintergrund bedürfen die militärischen Angriffe der NATO auf Stellungen der Taliban und der Al-Qaida oder anderen Zielen in Afghanistan einer Rechtfertigung nach der UN-Charta. Entsprechend den o.g. Ausnahmen ist immer zunächst zu fragen, ob eine Ermächtigung zum Einsatz von militärischer Gewalt nach Kapitel VII der UN-Charta vorliegt (Resolution des Sicherheitsrats).

Und genau hier liegt in der völkerrechtlichen Literatur der erste Streitpunkt: Der Sicherheitsrat hat am 12.09.2001 zunächst nur die Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit festgestellt. Am 28.09.2001 hat er diese Feststellung wiederholt und sie zum Anlass genommen, auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta alle Staaten zu einer Reihe von sehr weitgehenden und allgemeinen Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung aufzufordern. Diese beide Resolutionen 1368 und 1373 werden v.a. in der amerikanischen Literatur als Rechtfertigung aufgrund des Kapitel VII der UN-Charta angesehen, in der europäischen und deutschsprachigen Literatur wird dies eher abgelehnt, v.a. zurecht mit dem Argument, der Sicherheitsrat habe nur das Recht zur Selbstverteidigung festgestellt, aber keine militärischen Aktionen über Kapitel VII gebilligt.

Da die militärischen Angriffe nicht nach Kapitel VII der UN-Charta gerechtfertigt werden können, ist Art. 51 UN-Charta als Rechtfertigungstatbestand zu prüfen. Nach Art. 51 UN-Charta darf sich ein Staat im Falle gegen einen bewaffneten Angriff im Rahmen der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung zur Wehr setzen. Ein solches Selbstverteidigungsrecht stellte der UN-Sicherheitsrat mit den o.g. Resolutionen 1368 und 1673 für terroristische (asymmetrische) Angriffe in einem solchen Ausmaß fest. Die Angriffe auf das World Trade Center sind dabei als kriegerischen Akt zu werten. Die erst noch nötige Identifikation der Angreifer und die dadurch entstandene zeitliche Differenz zwischen Reaktion und Angriff werden einhellig als „gegenwärtig“ bezeichnet.

Da sich dieser militärische Einsatz der NATO als Reaktion auf die Anschläge auf New York grds. mit dem Recht auf Selbstverteidigung rechtfertigen („Ob?“), bedarf die Frage nach Umfang und Grenzen eines solchen Einsatzes einer Analyse („Wie“?). Problematisch erscheint hierbei der auch im Völkerrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Regelmäßig zweifelhaft ist, ob der sich verteidigende Staat auch mit militärischer Gewalt gegen Gruppen, die die Angreifer auf irgendeine Weise unterstützen, vorgehen kann. Solange diese Gruppen nicht als Angreifer anzusehen sind, wird man militärische Maßnahmen gegen sie grds. für rechtswidrig halten müssen. Eine andere Bewertung könnte nur dann angenommen werden, wenn die andere Gruppe (hier die Taliban) institutionell, personell oder logistisch so eng mit der für die Anschläge verantwortlichen Organisationen (Al-Qaida) verknüpft ist, dass die Taliban ebenfalls als „Angreifer“ angesehen werden muss. Das gleich dürfte für einen Staat gelten, der die terroristische Organisation unterstützt (Zurechnung eines Staates zu einem terroristischen Angriffs). Die Taliban als de-facto-Regime in Afghanistan bot der Al-Qaida, v.a. Osama bin Laden, eine sichere Zufluchtstätte (sog. „safe haven“), da die Taliban die Al-Qaida nicht strafrechtlich und auch nicht ausliefert. Einige Geheimdienste gingen auch von einer finanzielle Unterstützung der Taliban aus. Eine Analogie für diese Staatenzurechnung findet sich in Art. 3 f. der Aggressionsdefinition: Ein Staat der sein Staatsgebiet einem anderen Staat zur Verfügung stellt, damit dieser Angriffshandlungen auf einen dritten Staat ausüben kann, wird dadurch selbst zum Angreifer. Ob ein sog. safe haven vorliegt, muss der Einzelfall entscheiden. Es darf in diesem Kontext nicht vergessen werden, dass Bin Laden die Pläne über 09/11 aus Afghanistan heraus geplant hatte.

Die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts muss weiter daran gemessen werden, ob sie das mildeste Mittel darstellt. Militärische Mittel dürfen nur als ultima ratio eingesetzt werden. Es war zunächst geboten, zunächst auf eine Auslieferung Bin Ladens zu dringen. Möglicherweise hätten die Angebote der Taliban, Bin Laden in Afghanistan anzuklagen oder auszuliefern sorgfältiger geprüft werden müssen. Da die Taliban aber die bereits aufgrund der Sicherheitsresolution 1267 (1999) bestehende Auslieferungspflicht missachtet haben, spricht einiges gegen die Ernsthaftigkeit ihres Angebots. Der Erfolgscharakter anderer (wirtschaftlicher oder diplomatischer) Sanktionen gegen die Taliban darf ebenfalls bezweifelt werden. Es ist damit kein milderes, gleich effektiveres Mittel gegeben.

Insgesamt ist damit ein Angriff auf Stellungen der Al-Qaida in Afghanistan mit dem Recht auf Selbstverteidigung aus Art. 51 UN-Charta gegeben (dies ist unumstritten). Auch lässt sich der militärische Einsatz der NATO gegen die Taliban völkerrechtlich mit Art. 51 UN-Charta rechtfertigen (dies in v.a. in der deutschen Literatur umstritten, wobei die herrschende Meinung die oben geschriebene Auffassung vertritt). Gegen wen und ob der angegriffene Staat zur Wehr setzt, unterliegt damit seinem Ermessen.

"Einladungsphase" (ab ca. 2002/2003)
Die Phase der Selbstverteidigung ging so lange, bis die Taliban keine Herrschaftsgewalt in Afghanistan ausüben konnte und die Al-Qaida weitestgehend geschlagen war. Dies ist mit den demokratischen Wahlen Ende 2003 anzusehen bzw. nach der Schlacht von Torabora. Die völkerrechtliche Legitimation für diese Phase nach 2003 ist völkerrechtlich sogar ein bisschen einfacher zu erklären. Die demokratisch gewählte Zivilregierung Afghanistan hat die NATO-Truppen eingeladen, auf ihrem Territorium zu bleiben und dabei den Aufbau eigener Sicherheitskräfte zu begleiten. Dadurch konnten die NATO-Truppen weiterhin gem. dem Völkerrecht in Afghanistan verbleiben. Die einzelnen Gewalthandlungen zwischen der Taliban (die sich dann im Rahmen eines asymmetrischen Konflikts betätigten) und den NATO-Truppen waren dann vom Recht auf Selbstverteidigung gedeckt.

Der militärische Auftrag der NATO-Truppen war nicht der Aufbau einer „westlichen“ Gesellschaft, sondern einzig der Aufbau und Ausbildung eigener afghanischer Sicherheitseinheiten. Diese Einladung hierzu wurde von einer in einer Wahl demokratisch legitimierten Zivilregierung ausgesprochen. Da diese auch von der UN völkerrechtlich anerkannt wurde, ist diese auch die afghanische Vertretung. Das Völkerrecht unterscheidet hierbei nicht, genauso wenig wie das nationale Recht, ob diese persönlich als fragwürdig legitimiert empfunden wird oder nicht. Das ist eine Frage der politischen Einschätzung und keine Frage des Völkerrechts.

Die Frage, ob für die Einladungsphase das Militär in dieser Stärke die richtigen Einheiten waren, wurde auch bei einen kleinen Streit innerhalb der Regierung Bush’ zwischen dem damaligen Verteidigungsminister Rumsfeld und dem stellv. Sicherheitskoordinator Wolfowitz diskutiert. Rumsfeld war dabei der Meinung, dass eine militärische Aktion nur bis zum Abhalten demokratischer Wahlen bzw. dem militärischen Sieg gegen die Taliban nötig sei. Danach sollte das Militär allenfalls nur zur Absicherung von NGO’s oder anderen zivilen Einrichtungen, die beim Aufbau Afghanistans maßgeblich beteiligt sein sollten, eingreifen (was einen enormen Truppenabzug bedeutet hätte). Dies wurde von Wolfowitz abgelehnt, der die dann erfolgte „Strategie“ empfahl. Dies waren allerdings keine Fragen des konkreten Völkerrechts, sondern vorderst politische Fragen.

weiteres

Hierzu braucht es an sich keine Aufarbeitung, denn mit dem humanitären Völkerrecht bzw. Kriegsvölkerrecht gibt es schon ein Regelwerk, das die Schutzlosigkeit der Zivilbevölkerung verhindert. Grds. müssen auf politischer Ebene zuerst immer alle diplomatischen Instrumente eingesetzt werden, bevor militärische Aktionen als ultima ratio eingesetzt werden. Auch dürfen die völkerrechtlichen Aktionen der CIA nicht mit den militärischen Aktionen vermischt werden.

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Lieber Ulf, lieber Philip,

seit mehreren Jahren höre ich schon euren Podcast und eure tollen Analysen und die ausgewogene Themenauswahl sind ein fester Bestandteil meiner Wochen-Routine. Danke dafür!

Trotzdem möchte ich euch ein paar Gedanken schreiben zu eurer Darstellung/Analyse des Afghanistan-Konflikts im Zuge des NATO Rückzug zum 11.09.21 in eurer letzten Podcast-Folge, da ich glaube, dass ihr dabei etwas versäumt habt (und ich weiß, dass ihr es besser könnt!).

Ich finde einerseits, dass es enorm wichtig ist aus einer europäischen, sehr priviligierten Position heraus (und aus einer deutschen Perspektive, die Teil des jüngsten Krieges in Afghanistan ist) den kritischen Blick zu aller erst auf die imperialen Großmächte und den Westen zu richten, denn in dieser Perspektive steckt unglaublich Erklärungspotenzial viel drin, was Afghanistan zu dem Scherbenhaufen gemacht hat, den das Land in großen Teilen heute ist. Ihr hattet das an einer Stelle zwar erwähnt, aber es wäre sicher gut gewesen deutlicher zu betonen, dass die UDSSR über 10 Jahre das Land in autokratische Manier besetzt hat (über 1 Millionen Tote; mehr als 3 Millionen Geflüchtete) und die USA Milliarden Dollar in Form von Waffen und anderer Unterstützung in unterschiedlichste islamistische Mudschaheddin-Gruppen gepumpt haben, die die Schreckensherrschaft der Sowiets nahtlos weiter geführt haben (wenn auch unter ganz anderem Paradigma natürlich). Letztendlich war alldas der Nährboden auf dem die (von Pakistan massiv unterstützte) Taliban das Land quasi ohne Gegenwehr „erobern“ konnte. Das zu betonen und aufzubereiten finde ich enorm wichtig. Auch den Einmarsch nach Afghanistan 2001 sowie die Art und Weise des Krieges (z.B. Drohneneinsatz) kritisiert ihr nicht deutlich genug. Nicht selten wird in Deutschland suggeriert, dass Länder wie Afghanistan und seine Bevölkerung quasi freiwillig die islamistische Unterdrückung durch Terror-Gruppen wie die Taliban akzeptieren würden. Hier hättet ihr auch stärker auf die deutsche Verantwortung heute eingehen können (Stichwort Grenzschließungen und Abschiebungen nach Afghanistan, gefeiert und befeuert durch Horst Seehofer).

Auf der anderen Seite geht es mir auch um die Art und Weise wie ihr über den Konflikt berichtet habt. Teilweise entstand der Eindruck, dass Afghanistan als Land an sich einfach ein hoffnungsloser Fall sei, welches aufgrund „natürlicher“ Begebenheiten nicht zu Demokratie und friedlichem Zusammenleben in der Lage sei (z.B. aufgrund der unterschiedlichen Stämme und der „anderen“ Religion, dem Islam). Während ihr zwar die „vielen vielen tausenden“ Tote ansprecht (es sind Zehntausende allein in den letzten 20 Jahren), kommt gleichzeitig immer wieder das Argument der Kosten. Ich finde diesen Fokus hier nicht richtig, bei all dem Leid, bei all den Traumatisierungen kann es nicht sein, dass die finanziellen Kosten des Krieges von Seiten der NATO so im Vordergrund stehen. Ich stelle mir vor wie es ist, als afghanische Person eueren Podcast zu hören und habe Angst, dass so eine Analyse jemanden wütend und traurig zurücklassen könnte.

Ich weiß, und das habt ihr ja auch betont, dass ihr keine außenpolitischen Experten seid, aber wenn ihr über ein so brisantes Thema sprecht, wäre es dann nicht gut eineeinen (afghanischen) Expert*in einzuladen und eine ausgewogenere Perspektive zu präsentieren?

Ich würde mich über eine Antwort freuen und hoffe ihr nehmt die Kritik freundlich und konstruktiv auf, denn so ist sie gemeint.

Liebe Grüße
Johannes

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Danke für den Beitrag. Detailliert und gut nachvollziehbar. Ich bin bei nahezu allem an Bord. Einzig hier verbleiben ein paar Fragezeichen:

In der Tat wurden den Auslieferungsaufforderungen keine Beachtung geschenkt, das war allerdings vor den Anschlägen. Nach den Anschlägen gab es zwei Auslieferungsangebote. Allein die Tatsache, dass es sich um Angebote und nicht um das Nachgeben bezüglich einer Forderung handelt, könnte ja ein Indiz sein. Das erste kam wohl noch im September, vor den Kampfhandlungen.
Ein weiteres wurde Mitte Oktober, nach einer Woche Bombardement (und vermutlich Anerkennung der militärischen Unterlegenheit) gemacht. Spätestens das Zweite hätte man wohl durchaus ernst nehmen können, hätte es doch die Einstellung der Kampfhandlungen zur Folge gehabt. Das ist durchaus reizvoll für jemanden, der sich der Schlagkraft der US Armee ausgesetzt sieht.
Anders gefragt: Was sollte denn die bombardierte Partei sonst tun, als Auslieferung anbieten?

Auch wenn die Angebote inhaltlich vielleicht nicht ausreichend waren: Sie weiter zu verfolgen - und sei es nur zur Wiederaufnahme der Verhandlungen - erscheint mir jedenfalls fürs erste deutlich milder. Oder verfiele damit vielleicht irgendwann das Element der Gegenwärtigkeit?

In der ganzen Diskussion rund um den Einsatz der NATO in Afghanistan ist meiner Ansicht nach die fehlende Differenzierung zwischen dem rein militärischen Teil und dem quasi-militärischen/nachrichtendienstlichen Teil der 20 Jahre. Der hier als Beispiel angeführte Drohneneinsatz war dabei nicht ausdrücklich Teil der rein militärischen Aktion der NATO; dies fand tatsächlich hauptsächlich mit rein konventionellen Waffensystemen wie Schützenpanzer oder Kampfflugmittel (Hubschrauber, Tornados) statt. Der hier angeführte Drohneneinsatz wurde von der CIA völkerrechtswidrig angewendet und nicht von der Bundeswehr oder den NATO-Truppen. Dies würde ich tatsächlich politisch wie rechtlich in einer Aufarbeitung trennen, da dies andere Regelungsbereiche darstellen. Eine Korrelation ist allerdings schon vorhanden, aber ist zu trennen.

Natürlich hätten beide Angebote der Taliban vonseiten der USA sorgfältiger geprüft werden sollen; diese fehlende Prüfung verhindert allerdings auch nicht die Gegenwärtigkeit. Allerdings muss man der USA zu Gute halten, dass zumindest das zweite Angebot nichts weiteres war als der Versuch einer Verschleppung des bevorstehenden Gegenangriffs. Ob dies - zusammen mit der offensichtlichen Missachtung der bisherigen Auslieferungspflicht - als ein ernsthaftes Angebot zu qualifizieren ist, muss sehr stark bezweifelt werden. Die Taliban hätte nach dem ersten Angebot auch gleich Osama Bin Laden zumindest festhalten können. Dieser Umstand spricht auch gegen die Ernsthaftigkeit. Ein Staat, der eine drohende Gefahr für seinen Bestand entgegensteht, würde nicht nur ein Angebot stellen, sondern auch weitergehende Maßnahmen treffen. Dies ist nicht geschehen. Aus diesen Gründen bezweifelt die fast einhellige Meinung des Völkerrechts die Ernsthaftigkeit beider Angebote. Meiner Ansicht nach wäre strategisch bzw. ideologisch gesehen das Vollziehen dieser Forderungen für die Taliban auch sehr nachteilig gewesen (strategisches, ideologisches Stichwort: Nachgeben des Imperialismus / Beugen vor den USA als das Inbild des modernen Imperialismus). Dies würde meines Erachtens auch gegen die Ernsthaftigkeit dieses Angebots sprechen.

Aber wären Verhandlungen gleich effektiv gewesen bei den ideologischen Gräben zwischen Taliban und den USA? Beide Parteien wollten gegeneinander ja nicht einmal sprechen. Dieses Mittel ist milder, aber nicht gleich effektiv, um die Angriffe auf New York bzw. das Pentagon „zu sühnen“ (untechnisch gesprochen).

Die Gegenwärtigkeit eines bewaffneten Angriffs erlischt aufgrund einer veralteten Formel nach heute herrschende Meinung erst dann, wenn keine Gefahr mehr für weitere Angriffe besteht oder die Selbstverteidigung als rechtsmissbräuchlich erscheint. Verhandlungen würden das Selbstverteidigungsrecht nicht ausdrücklich ausschließen, aber hätten meiner Meinung nach eben nicht dieselbe effektive Wirkung für ein Selbstverteidigungsrecht.

Hier noch ein Nachtrag zur „Einladungsphase“: der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat ein (Ultra-) Kurzgutachten über die völkerrechtliche Lage der ISAF-Mission erstellt.