LdN 384 Infrastruktur und Wahlverhalten

Der Verweis darauf, dass es viele Studien gibt und nicht nur eine, war vor allem eine Antwort auf @Unruffled5732 .

Mein Einwurf war aber ja allgemein gehalten. Und der Volksverpetzer schreibt hier ja selbst, dass im Osten die Stimmen nicht unbedingt mit wirtschaftlichen Faktoren erklärt werden können. Am meisten Sorgen um den Stimmanteil der AfD machen wir uns aber ja gerade im Osten.

Und noch ein Punkt. Die Umfrage zum Thema Nationalmannschaft hat es wieder gezeigt, als 21% antwortete, sie wünschten sich mehr weiße Nationalspieler. Wir müssen einfach der Realität ins Auge sehen, dass in Deutschland gut 20% der Menschen erstmal grundlegend Rassistisch und Ausländerfeindlich eingestellt sind.
Dass viele dieser Menschen lange Parteien der Mitte gewählt haben liegt auch daran, dass lange kaum über diese Problematik geredet wurde. Ich kenne z.B. Leute mit streng rechter Auffassung zum Thema Ausländer, die waren lange in meinem Heimatort aktiv in der SPD. Erst nach 2015 sind sie dann ausgetreten.

Die wenigsten von denen wird man in den nächsten Jahren zurückholen. Investitionen in Infrastruktur können vielleicht den ein oder anderen gemäßigten besänftigen. Die Frage ist aber am Ende dennoch nur ob die sich alle hinter die AfD stellen oder ob sich verschiedene Parteien diese Stimmen teilen, u.a. vielleicht auch Union und FDP, aber natürlich auch BSW, FW sowie weitere Kleinparteien die teils noch extremer sind.

Man sieht ja auch in Österreich, dass eine FPÖ trotz aller Probleme die diese Partei auch intern hat nicht einfach kleinzukriegen ist, wenn das was sie propagiert das ist, was viele der Wähler tatsächlich denken.

Es gibt nicht nur eine Studie, die den Zusammenhang zwischen Austeritätspolitik und Rechtspopulismus belegt.

Danke für den Link. Wir haben hier aber einige Dinge zu bereden. Diese Studien werden weder von mir, noch von Christian Lindner grundsätzlich infragegestellt. Die wissenschaftliche Einordnung, die du forderst, nimmt aber auch der Volksverpetzer gerade nicht vor!

Die allermeisten Studien stimmen überein, dass Austeritätspolitik zum Erstarken rechtspopulistischer Parteien beitragen kann. Das sind sowohl die genannten Quellen, als auch sehr aktuelle Studien, auf die sich das Ifo-Institut in einer Publukation aus dem März 2024 bezieht:

Wohlstand in Gefahr? Ursachen und Folgen von Populismus (Seite 14)

Nun betrachtet die Studie von Gold und Lehr 2024 (die in der Lage vorgestellte Studie) eben nicht die Austeritätspolitik im Allgemeinen, sondern einen speziellen Teil der Politik, nämlich der Zuweisung von Fördergeldern der europäischen Union und kommt zu dem Ergebnis, dass es eine Korrelation mit der Zuweisung/dem Entzug von Förderungen und rechtspopulistischen Stimmen gibt. Nun kommen wir aber zum Knackpunkt. Sie betrachten ein singuläres Ereignis, nämlich die Osterweiterung. Es gab aber noch andere Ereignisse im betrachteten Zeitraum, die auch einen Einfluss auf die Stimmenanteile rechtspopulistischer Parteien gehabt haben können:

2001: 9/11
2004: EU-Osterweiterung
2007: EU-Osterweiterung
2007: Weltwirtschaftskrise
2009: Eurokrise (aus deren Folgen zum Beispiel die AfD hervorgegangen ist)
2015: „Flüchtlingskrise“

Man kann sich gewisse Gleichzeitigkeitseffekte logisch vorstellen.

Während die vom Ifo-Institut ausgewerteten Studien (aus 2023) zum Ergebnis kommen, dass durch Austeritätspolitik ausgelöst 1,3–6% der Wahlergebnisse rechter Parteien zu erklären sind, kommt die hier vorliegende, diskutierte Studie der beiden Autoren Gold und Lehr zum Ergebnis es seien 20%. Gold und Lehr verzichten meines Erachtens auf eine wissenschaftliche Einordnung hinsichtlich der Effektgröße und die wissenschaftliche Auswertung weiterer Einflussfaktoren. Ein Kapitel „Discussion“ gibt es nämlich nicht in der Publikation.

Es bleibt zusammengefasst: Die Ergebnisse weisen in die gleiche Richtung, wie bereits vorangegangene Ergebnisse. Sie kann aber meines Erachtens nicht zur Bestätigung und schon gar nicht zur Angabe einer Effektgröße herangezogen werden, da sie auf eine von dir geforderte wissenschaftliche Einordnung eben gerade verzichtet. Sie geben nicht mal einen Irrtumsbereich ihres gemessenen Effektes an! Auf die Beobachtung, dass es in geförderten Regionen 20% weniger rechtspopulistische Stimmen gibt, muss die Untersuchung folgen, ob man das ausschließlich durch die Investition, oder durch andere Effekte erklären kann.

Zum Schluss möchte ich noch auf etwas hinweisen:

Abgesehen von der wissenschaftlichen Untermauerung ist der Zusammenhang auch einfach völlig logisch.

Das ist ein sehr gefährlicher Satz. Er trägt den Selbstbestätigungsfehler offen vor sich her. Ergebnisse werden nicht dadurch wahr, dass wir sie uns wünschen oder sie als logisch betrachten.

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Leider ist das Ifo-Institut hier undeutlich. Die von dir genannten 1,3-6% Erhöhung sind aus diesem Paper entnommen:

Darin wird aber deutlich gemacht, dass es sich bei den Werten um Prozentpunkte handelt, was das Ifo-Institut unterschlägt. Die Steigerung um 20% von Gold und Lehr dagegen ist ein relativer Anstieg in Stimmen, und stellt eben keine Prozentpunkte dar. Insofern sind die Ergebnisse der beiden Studien wahrscheinlich nicht besonders weit voneinander entfernt.

Danke für den Hinweis @faust! Ich denke aber, dass das Ifo-Institut hier korrekt zitiert. Die im Ifo-Bericht zitierte Originalpublikation hat folgenden Wortlaut (Seite 23, Kapitel 4.1 Political Costs:

It is evident that austerity shocks account for an economically significant part of extreme voting, and in particular in the medium run. At the four-year horizon, austerity explains more than 6% of the variation in extreme parties’ vote share. We further differentiate between parties on the far left and far right. Interestingly, fiscal consolidations account for a larger part of voting for far-left parties than for far-right ones (7.7% versus 1.3% at the four-year horizon).

Das ist immer noch uneindeutig. Am Anfang von Kapitel 4.1 wird dagegen ganz klar von Prozentpunkten gesprochen.

(Hervorhebung von mir)

Das ergibt auch intuitiv Sinn für mich, denn es würde mich schon wundern, wenn eine relative Veränderung von lediglich 1.3% als statistisch signifikant durchgeht.

Ähm. Doch. Ausdrücklich. Er glaube nicht an diese Studien.
Seit wann haben Studien etwas mit Glauben zu tun.

Ich selbst bin keine Wissenschaftlerin. Also sehe ich mir an, wie viele Studien es zu einem Thema gibt, von wem sie kommen (neutral/Lobbyverbände?) und ob sie glaubwürdig scheinen. Ich habe weder Kompetenz noch Wissen, sie detailliert zu beurteilen. Und Christian Lindner auch nicht. Dafür gibt es Wissenschaft.

So ist er auf den besten Weg zum Trump.

Warum versucht er (und du?), die Studien zu diskreditieren? Weil ihm das Ergebnis nicht passt, nehme ich mal an.

Ich finde wiederum diese Haltung extrem gefährlich und wäre dankbar, wenn hier im Forum keine Wissenschaftsleugnung stattfindet.

Widerlegt/weiterentwickelt werden Studien durch Peer Review etc, nicht durch Christian Lindners Glauben. Wie gesagt: Es gibt nicht nur eine Studie, die zu einem ähnlichen Ergebnis kommt.

Auch ohne die Leugnung eines Einflusses von Infrastruktur auf Wahlverhalten muss ich aber sagen, dass im Osten bei Teils über 35% Zustimmung für die AfD (einzelne Wahlkreise gar über 45%) jetzt nicht der entscheidende Punkt ist, ob wir mit viel Geld in Infrastruktur vor Ort (wie gesagt korreliert die Zustimmung zur AfD im Osten nicht mit wirtschaftlicher Situation und Infrastruktur vor Ort sondern ist eher Abhängig von der Region) aus diesen 35% am Ende 30% machen können. Denn Gerade dort wo die Wirtschaftliche Lage ohnehin eher besser ist, dürfte der Einfluss von Investitionen auf das Wahlverhalten geringer sein als in den tatsächlich abgeschlagenen Regionen.

Die Frage die für mich entscheidend ist wäre vielmehr was man dagegen tun kann, dass wir überhaupt über Zahlen in solchen Größenordnungen sprechen müssen.

Zu sagen die wählen nur Rechtsextrem (Betonung auf Extrem) weil die Infrastruktur besser sein könnte verharmlost die Situation in meinen Augen. Und selbst wenn die Stimmen bei ausreichend Geldern dann zu Union und FDP wandern, weil man weitere Gelder sicherstellen will, dann ist das Gedankengut ja noch lange nicht aus den Köpfen verschwunden.

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Sie führen es in der Zusammenfassung zu Beginn der Publikation weiter aus:

Our results show that fiscal consolidations are associated with significant political costs: a 1% reduction in regional public spending leads to an increase in extreme parties’ vote share of around 3 percentage points. The higher vote share captured by extreme parties coincides with a fall in voter turnout together with an increase in the total votes for these parties. Thus, in response to fiscal consolidations, fewer people vote and those who do, exhibit a higher tendency to vote for ex- treme parties. In addition, austerity increases fragmentation, which, based on previous evidence on the negative economic impact of partisan conflict (Azzimonti 2011; Funke et al. 2020), suggests that austerity affects economic outcomes through a more polarized political environment. We use a forecast error variance decomposition (FEVD) exercise to quantify the magnitude of regional cuts in public spending in driving more extreme voting. Our results suggest that around 6% of the variation in extreme parties’ vote share is indeed due to fiscal consolidations, which further highlights the importance of austerity in understanding shifts in voters’ preferences toward the more extreme ends of the political spectrum

Ich verstehe es so, dass dass die der Anstieg an Stimmen für extreme Parteien zum Beispiel durch „normale Rezession“ ebenfalls steigt. Die Politik kann den Effekt verstärken. Diesen Anteil haben sie zu 6% für extreme Parteien beider Richtungen bestimmt.

Ich kann die Effektgrößen, wie gesagt, auch nicht einschätzen. Umso wichtiger ist die wissenschaftliche Einordnung durch entsprechende Fachkenntnis. Es kann ja durchaus sein, dass der Effekt in wirtschaftlich benachteiligten Regionen größer ist, das muss halt diskutiert werden.

Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie du darauf kommst, ich würde die Ergebnisse grundsätzlich in Frage stellen und habe, denke ich, den Grund herausgefunden:

Ich habe geschrieben:

Ich komme aus dem pharmazeutisch/medizinischen Bereich. Wirksamkeit ist bei uns nicht dichotom, sondern beschreibt auch das Ausmaß eines Effektes. Und genau das war hier von mir gemeint: Die Stärke des Effektes ist für mich nicht ausreichend belegt. Nicht der Effekt generell.

Ich hoffe, ich konnte damit und mit meinen anderen Ausführungen das Missverständnis auflösen.

Die Studien an sich haben nichts mit Glauben zu tun. Die Ergebnisse, die diese Studien erhalten sind wahrscheinlich korrekt erzeugt worden. Die Ergebnisse zweifle ich in ihrer Gesamtheit nicht an. Worüber jedoch Dissens besteht, sind die Schlüsse, die daraus gezogen werden.

Ich habe die zitierten Studien aus deinem Link zum Volksverpetzer mal aufgelistet und die Kernaussagen fett markiert:

Gabriel 2023 (Volksverpetzer und IfO)
Sparpolitik fördert extreme Parteien - linke mehr als rechte - Effekt im unteren einstelligen Prozentbereich

Gold und Lehr 2024 (Volksverpetzer und IfW)
Regionalförderung senkt direkt die Zustimmung zu rechtspopulistischen Parteien, keinen Einfluss auf linke Parteien, Effekt um die 20 %. Aber auch als Kommentar auf Fetzer 2019:

Andererseits sind periphere Regionen, in denen bereits
regionalpolitische Maßnahmen ergriffen wurden, häufig Hochburgen populistischer Parteien.
Im Fall des Brexits waren die Regionen, die von EU-Transfers profitierten, besonders für einen
Austritt aus der EU

Fetzer 2019 (Volksverpetzer)

In Regionen, die besonders von den Kürzungen betroffen waren, erzielte Ukip besonders hohe Zugewinne. Da Ukip-Wähler überwiegend auch den EU-Austritt unterstützten, legt Fetzers Studie nahe, dass ohne die Austeritätspolitik das Remain-Lager das EU-Referendum gewonnen hätte.

Studie Cambridge University Press (Volksverpetzer):

Die Autoren argumentieren, dass die Sparpolitik zwar nicht direkt zu einem Machtgewinn dieser Parteien geführt hat, aber die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die sie verursachte, die politische Landschaft so verändert habe, dass sie den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien begünstigte.

Hübscher et al. 2023 (Volksverpetzer)
Sparpolitik fördert Polarisierung auf beiden Seiten des Spektrums

Baccini und Sattler 2021 (Volksverpetzer)

Sparmaßnahmen haben in weniger gefährdeten Gebieten kaum Einfluss auf die Popularität populistischer Parteien. Die Ergebnisse unterstreichen, dass Sparpolitik, unabhängig von Wirtschaftskrisen, populistische Unterstützung fördert, besonders dort, wo wirtschaftliche Schwächen und Sparmaßnahmen zusammenfallen.

Cremaschi et al. 2023 (Volksverpetzer)

Es zeigt, dass ein Mangel an lokalen öffentlichen Diensten wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Transport in Italien zu einer erhöhten Unterstützung für rechtsextreme Parteien geführt hat. […] Die Studie verdeutlicht, wie öffentliche Dienstleistungsverknappung und die Präsenz von Einwanderern dazu führen können, dass einheimische Bürger sich im Wettbewerb um knappe Ressourcen sehen, was den Boden für die Rhetorik rechtsextremer Parteien bereitet.

Alle Studien zeigen in die gleiche Richtung. Über Ursachen, Begleiteffekte und konkrete Auswirkungen treffen Sie jedoch aufgrund unterschiedlicher Datengrundlage, Ausrichtung und Zielsetzung so unterschiedliche Aussagen, dass es schwierig möglich ist, sich eine Publikation aus der Reihe herauszunehmen und diesen Effekt als wahr herauszustellen, da sich diese Studien in Ihren spezifischen Ergebnissen nunmal teilweise nicht in Deckung bringen lassen.

Das was ich da gemacht habe ist keine Diskreditierung. Ganz im Gegenteil. Das ist wissenschaftlicher Diskurs. Ich stelle die Ergebnisse auch nicht in Frage, sondern ich stelle die These auf, dass aufgrund der vorliegenden Daten eine Handlungsempfehlung für die Politik nicht treffsicher abgeleitet werden kann, solange zusätzliche Effekte nicht beachtet werden (Gabriel 2023 zum Beispiel bezieht die Weltwirtschafts- und Eurokrise in die Auswertung mit ein)

Meines Erachtens ist die Studie Gold und Lehr 2024 eben kein peer reviewed Paper, sondern ein working paper, welches auf dem Hauskanal veröffentlicht wurde.

Dass diese Art der Kritik (meine, nicht Christian Lindners) unbedingt notwendig ist und ich es deshalb innerhalb des Papers erwartet hätte und auch von den Autoren im Rahmen eines Peer Reviews einfordern würde, zeigt ein Artikel aus der Artikelserie „Unstatistik“: Selbst korrekt durchgeführte, nach höchstem Standard geplante, wissenschaftliche Studien können unwahre Ergebnisse liefern, weshalb eine Einordnung in den Kontext so unglaublich wichtig ist. Ansonsten wäre das Ablehnen von Homöopathie Wissenschaftsleugnung.

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