Armutsbestrafung in deutschen Gerichten (aktuelle Langzeitbeobachtung)

Kommt drauf an, welche „Problemfälle“ du meinst. Manches lässt sich tatsächlich einfach abschaffen. Der Gesetzgeber könnte zum Beispiel sehr wohl die Entscheidung fällen, dass „Armut“ oder „psychische Notlage“ als nachweisbares Motiv für Diebstahl zur Freistellung von strafrechtlichen Konsequenzen führt und stattdessen soziale Interventionen angeordnet werden (z.B. die Zuordnung eines Sozialarbeiters). Selbst wenn die betroffene Person immer wieder stiehlt wäre das weiter die richtige Lösung und ich sehe keinen Grund, warum eine geringe Zahl solcher Fälle den sozialen Frieden gefährden würde.

Sicher ist es unmöglich, dass unter 84 Millionen Menschen keinerlei individuellen Tragödien stattfinden, die dazu führen dass wir mal in der U-Bahn eine verstörende Begegnung haben. Insofern klar: jenseits einer Utopie wird es immer mindestens eine Kleine Zahl an „Problemfällen“ geben.

Das steht aber nicht im Widerspruch zu den hier vorgeschlagenen Lösungsansätzen. Denn eine solidarische Gesellschaft muss auch damit umgehen können, dass es in ihr Menschen gibt, die sich nicht „normal“ verhalten. Toleranz, Großzügigkeit, Vergebung und Solidarität sollte man selbst Menschen gegenüber ausüben, die schuldhaft gegen Regeln verstoßen – bei „unschuldigen Verstößen“, also aus Armut oder Krankheit heraus, gilt das doppelt.

Du baust hier gesellschaftliche Notlagen auf, die so überhaupt nicht existieren. Erstmal sind z.B. die meisten Obdachlosen gesellschaftlich völlig unauffällig und um eine gesetzeskonforme Existenz durchaus bemüht. Das sollte man hier auch vielleicht mal erwähnen. Wir haben auch keine allgemeine Krise der armutsbedingten Kriminalität oder des psychologisch bedingten Fehlverhaltens.

Ich würde dir widersprechen. Jeder Supermarkt hat die Möglichkeit, bekannten Ladendieben Hausverbot zu erteilen und das auch durchzusetzen. Dafür braucht es keine „Selbstjustiz“ und kein Strafverfahren.

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Ergänzend sollte man auch nochmal darauf hinweisen, dass wir hier immer von gewaltfreien Vorfällen reden. Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Lage gewalttätig werden und sich selbst oder andere gefährden, können (und sollten) schon heute durch den Staat in entsprechende Einrichtungen eingewiesen und dort beaufsichtigt und behandelt werden. Was im Übrigen keine Schnittmenge mit dem Strafrecht hat (außer in sehr extremen Fällen). Hier gibt es also keine drohende Unzulänglichkeit im staatlichen Handeln.

Also wenn wir hierzulande es nicht mal mehr hinbekommen, Gesetzgebung gegen die Interessen des Einzelhandels einzuführen, dann gute Nacht.

Wie gesagt, Ladendiebstahl macht ein halbes Prozent des Umsatzes aus. Selbst wenn sich ohne Strafverfolgung die Vorfälle verdoppeln würden, ließe sich das immer noch dadurch kompensieren, dass alle Produkte um ein halbes Prozent teurer werden - weit unterhalb der aktuellen Inflationsrate.

Es geht gerade nicht um die gesamtgesellschaftliche Ebene, sondern um den konkreten Einzelfall. Mit diesen Fällen muss eben umgegangen werden.

Da kommen wir der Sache schon näher. Und das ist genau die Richtung, die ich in meinem ersten Post in diesem Thread indirekt vorgeschlagen bzw. als Problem identifiziert habe:

Auch hier sind wir daher durchaus einer Meinung, weshalb ich weiterhin nicht verstehe, warum du so schreibst, als würden Welten zwischen unseren Meinungen liegen. Nochmal: Ich sage nichts gegen all die Lösungsansätze, die du vorschlägst. Einzig im konkreten Fall, der hier genannt wurde („Armutsdiebstahl“) ist mein Standpunkt, dass der Staat nicht „nichts tun“ kann, weil die Implikationen dessen meiner Einschätzung nach zu negativ wären. Aber ich wiederhole nochmal: Wir sind uns einig, dass das Strafrecht (bzw. die aktuell möglichen strafrechtlichen Sanktionen Geld- und Haftstrafe) hier nicht das richtige Mittel ist. Also dräng mich doch bitte nicht ständig in eine Richtung, in der ich absolut nicht stehe.

So einfach ist das nicht. Supermärkte sind Anbieter existenzieller Dienstleistungen und als solche darf es nicht zu der Situation kommen, dass Menschen der Zugang zu allen Einrichtungen dieser Art verboten wird. Genau das wäre aber bei „notorisch-stehlenden Obdachlosen“ dann der Fall. Dazu bleibt es dabei, dass wenn die Behörden nicht mehr handeln, weil Diebstahl durch Armutsbetroffene quasi „legalisiert“ wird, es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu Selbstjustiz kommt, weil die Supermärkte - nachvollziehbar und zu Recht - zu dem Schluss kommen, dass der Staat ihre Rechte nicht schützen kann oder will. Das ist einfach in unserem Rechtssystem ein absolutes No-Go.

Nochmal:
Ich bin absolut dafür, die gesetzliche Lage dahingehend zu ändern, dass Gerichte - wie im Jugendstrafrecht - Weisungen statt Strafen verhängen können, damit am Ende eines Strafverfahrens wegen Diebstahls dann z.B. eine Betreuungsweisung oder eine Unterbringung in eine betreute Wohngruppe stehen kann, statt eine Geld- oder Haftstrafe. Aber ich bin absolut dagegen, dass der Staat jeden Interventionsanspruch aufgibt, da es einfach offensichtlich ist, dass die von den Taten der Obdachlosen negativ Betroffenen (das können neben Supermärkten auch kleine Kioske, andere Obdachlose oder sonstige Privatpersonen sein!) es nicht akzeptieren würden, wenn der Staat einfach sagt: „Nicht mein Problem!“, ohne, dass es dadurch zu Selbstjustiz kommen würde. Habe ich hier ein so negatives Menschenbild, dass das wirklich in Frage steht? Ich denke, ich bin da nur realistisch.

Zwar teile ich die Position mit Ladendiebstahl entspannter umzugehen aber in den USA zeigt sich dass eine Gesetzsänderung, die Diebstahl erst über einen bestimmten Warenwert (iirc paar hundert dollar) als kriminellen Akt ahnbar macht, zu geradezu absurden Szenarien führt. Gesetzesänderungen in diesem Segment können also verheerende Signalwirkung haben. Es muss doch darum gehen dass immer mehr Menschen in einem der reichsten Länder nicht mehr klarkommen. Symptombekämpfung ist kein guter Weg

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Ihr driftet gerade sehr ab.
Bei der Frage der Armutsbestrafung geht es nicht primär darum, wer Straftaten begeht und warum. Es geht darum, ob vor dem Gesetz alle Straftäter gleich behandelt werden. Und das werden sie eben nicht. Ein armer Mensch kann sich nicht verteidigen wie ein wohlhabender. Er kann nicht mal so eben Geldstrafen, Geldbeträge für eine Einstellung oder Anwälte bezahlen. Er kennt sich im Zweifel nicht mit Behördenbriefen und deren unverständlichen Inhalten aus.
Nein, vor Gericht sind nicht alle gleich.

Insbesondere die Strafen für Fahren ohne Fahrschein, die wegen der Mittellosigkeit oder Krankheit der Menschen oft im Gefängnis enden, weil sie nie ein Richter zu Gesicht bekommen hat, sind völlig daneben.

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Gibt es dafür auch eine Quelle?

Hintergrund ist die Verabschiedung der „California Proposition 47“ in der kalifornischen Gesetzgebung: Demnach werden Diebstähle unter 950 US-Dollar (ca. 775 Euro) nicht mehr als Straftat gewertet, sondern als weit mildere Ordnungswidrigkeit.

Auf twitter kann man schon seit langem US Geschäfte bestaunen, in denen selbst günstige Produkte in abgeschlossenen Schränken verstaut sind. Was in Deutschland vlt bei teuren Spirituosen oder Tabak der Fall ist, passiert dort bereits mit Ben&Jerrys Eis. Neuste Blüte: Händler preisen jedes Produkt über 950$ ein, um den Diebstahl ahnbar zu machen. An der Kasse gibt’s Coupons, die den Normalpreis wiederherstellen

Twitter (bzw. X) ist natürlich eine starke Quelle, aber ich persönlich verlasse mich doch lieber auf wissenschaftliche Studien:

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Juti, dann will ich nicht weiter de-railen :slight_smile:

Warum lässt man den Staat nicht einfach die gestohlene Ware den Einzelhändlern ersetzen wie es auch bei ausgefallener Ernte bei Bauern der Fall ist?
Dann können Obdachlose klauen und der soziale Friede ist gewahrt - OK, der Einzelhändler wird über Papierkram schimpfen.